„Martyrer der Dummheit“?

2013_12_10_Orsenigo

Es hat die KZ-Priester tief gekränkt, daß Nuntius Cesare Orsenigo und manche deutsche Bischöfe sie als „Martyrer der Dummheit“ bezeichnet haben. Jene waren der Meinung, manch einer wäre nicht ins KZ gekommen, wenn er den Mund gehalten hätte.

Nuntius Cesare Orsenigo (* 13.12.1873 in Villa San Carlo [Pfarrei Olgi­nate] am Comer­see/I, † 1.4.1946 in Eichstätt) – Prie­sterweihe 1896 – Ernennung zum Titularerz­bischof u. Apostolischen Nun­tius in den Niederlanden 23.6.1922 – Bischofsweihe 29.6.1922 – Apo­sto­lischer Nuntius in Un­garn 1925 – Apostolischer Nuntius als Nachfolger von Eugenio Pacelli mit Sitz in Berlin 25.4.1930 bis 7.2.1945 – mit Sitz in Eichstätt 8.2.1945 bis 1.4.1946 – Einen Nachfolger als Apostolischen Nuntius gab es erst am 4.4.1951 mit Erzbi­schof Aloysius Muench (1889–1962).

Richard Schneider[1] am 22.4.1969 an Heinz Römer[2]:
Das ominöse Wort „Martyrer der Dummheit“ hat der + Nuntius Orsenigo vor Priestern im Exerzitienhaus Him­melspforten in Würzburg ausgesprochen. Er hat es von Staatsrat Berning[3] übernommen, diesem nazistischen Bischof. Es ist aber leider Gedankengut unserer Bischöfe einst und jetzt geworden.
So auch bei Erzbischof Dr. Schäufele[4]! Er gebrauchte es vor dem Polendekan Julius Janusz[5] in Mannheim. Von ihm erfuhr ich es erst ohne Namensnennung: Ein hoher Herr habe ihm gesagt, von den Freiburger KZlern war kein Prominenter im KZ. Und die dort waren, verdanken es ihrer Dummheit.[6]

[1] Geistlicher Rat Richard Alois Schneider, im KZ Capo Maus genannt, (* 5.1.1893 in Hund­heim, † 6.9.1987 in Buchen) – Priesterweihe 12.6.1921 in Freiburg/St. Peter – Er kam we­gen Warnung vor dem Eintritt in die SS am 22.11.1940 ins KZ Dachau und wurde am 29.3.1945 entlassen. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1982 als Zeuge aus­ge­sagt.
[2] Monsignore Heinz Römer (* 1.3.1913 in Ludwigs­hafen, † 13.4.1998) – Priesterweihe 4.7.1937 in Speyer – Er kam wegen Verteidigung des verleumdeten Bischofs Ludwig Sebas­tian von Speyer am 21.2.1941 ins KZ Dachau und wurde am 9.4.1945 entlassen. Er war der letzte Herausgeber der „Stimmen von Da­chau“.
Bald nach der Befreiung aus dem KZ Dachau sam­melte u. a. Caritasdirektor Hans Carls die Akten über Leben und Sterben von Dachaupriestern und begann mit der Herausgabe der „Stimmen von Dachau“, einer Zeitschrift, in der er die Schicksale seiner Confratres in Dachau schilderte.
Die erste Nummer erschien am 1.1.1947, die letzte von ihm redigierte Nummer am 31.12.1948. Von Hans Carls übernahm 1955 diese Aufgabe Josef Neunzig bis Juli 1965. Vom 13.9.1965 bis Frühjahr 1977 (Rundbrief Nr. 14) lag die Verantwortung bei Heinz Römer. Er gestaltete die „Stimmen von Dachau“ nicht mehr als Zeitschrift, sondern als Rundbrief: „gewissermaßen eine schriftliche Unterhaltung“. Man nannte sie dann auch Römerbriefe.
[3] Bischof Hermann Wilhelm Berning (* 26.3.1877 in Lingen, † 23.11.1955 – Priesterweihe 10.3.1900 in Osnabrück – Bischof von Osnabrück 1914–1955 – Ernennung zum Preußischen Staatsrat durch Hermann Göring 1933
[4] Erzbischof Dr. Hermann Josef Schäufele (* 14.11.1906 in Gemmingen-Stebbach, † 26.6.1977 in Langenegg/Vorarlberg/A – Bischofsweihe zum Weihbischof von Freiburg 11.5.1955 – Erzbischof von Freiburg 16.9.1958
[5] Juliusz Janusz (* 4.5.1906 in Łyczana, Bistum Łuck, † ?) – Priesterweihe 1933 – Er kam am 18.4.1940 ins KZ Bu­chenwald, am 7.7.1942 ins KZ Dachau und wurde am 29.4.1945 befreit.
[6] Original ABSp Nachlaß Römer Nr. 58.

In Bayern prägte man das Wort „Lieber Gott, mach mich stumm, daß ich nicht nach Dachau kumm!“

Zu erforschen wäre noch, wer von den Laien aus dem Bistum Münster ins KZ kam und wer verhaftet oder anderweitig bestraft wurde, ohne ins KZ zu kommen.

Reinhold Friedrichs[1], der mit Sicherheit für seinen Bischof ins KZ gekommen war, am 19. November 1957 im Seligsprechungsprozeß für Clemens August Kardinal von Galen:
Als ich im Oktober 1945 nach Münster zurückkehren konnte, um den Bischof [im St. Josef-Stift in Senden­horst[2]] zu besuchen, gab er mir die „Pax“, umarmte mich und küsste mich weinend auf beide Wangen.
Im Dezember 1945 berief er mich in das Domkapitel und sagte mir: „Mit Ihrer Aufnahme ins Kapitel möchte ich Sie und alle Priester ehren, die im Konzentrationslager gewesen sind“.[3]
[1] s. Aktuelles vom 22. August 2016
[2]
Da in Münster das Bischofshaus zerstört war, wohnte der Bischof bis zum 18.12.1945 im St. Josef-Stift in Senden­horst.

[3] Positio super Virtutibus, Vol. I, S. 182.

Johannes Sonnenschein[1] am 11. Februar 1983 im Seligsprechungsprozeß für Clemens August Kardinal von Galen:
Mein letztes Treffen mit ihm [Bischof Clemens August], im Oktober 1945, ist für mich ein unvergleichliches Erlebnis geblieben.
Als er mich in einer großen Gruppe von Besuchern im großen Vorraum vor seinem kleinen Arbeitszimmer [im St. Josef-Stift in Senden­horst] erblickte, ließ er alle anderen warten und zog mich in sein Büro. Er umarmte mich mit Tränen in den Augen und sagte mir: „Mein Sohn, wie froh bin ich, daß Du wieder hier bist. Wenn Du später in den Himmel kommst, wirst Du nicht traurig sein, dass Du in Dachau warst. Auf meine Antwort, dass das schon jetzt so ist, war er erstaunt und fragte mich, warum. Ich antwortete: „Weil ich dort noch mehr gelernt habe als im Seminar.“ Meine Antwort erstaunte ihn. Als ich ihm sagte: „Im Seminar habe ich nur die Theorie gelernt, in Dachau aber habe ich die Pastoral in der Praxis erlebt“, sagte er: „Wir wollen aber nicht alle Seminaristen in die Schule von Dachau schicken.“
In dieser Begegnung habe ich erfahren, wie sehr der Diener Gottes besetzt und erfüllt war von Mitleid während der ganzen Zeit, in der ich im KZ war und auch, wie dankbar er war für das, was wir für ihn und für die Kirche auf uns genommen hatten. Schon vorher, im KZ, wussten wir aus verschiedenen Nachrichten, dass unser Bischof unsere Spuren verfolgte und für uns betete.[2]
[1] Johannes Sonnenschein (* 30.5.1912 in Bocholt, † 31.8.2003 in Ahaus) – Eintritt ins Col­legium Borromaeum in Münster 1.5.1931 – Priesterweihe 19.12.1936 in Münster – Kaplan in Ahlen St. Josef 29.2.1940 – dort Ver­haftung 8.3.1942 – Er kam über die Gefäng­nisse in Ahlen und Münster wegen Jugendseelsorge und Verbreitung des Möldersbriefes am 29.5.1942 ins KZ Da­chau und dort am 30.5.1942 auf den Zugangsblock, wo er Karl Leisner traf. Am 9.4.1945 wurde er ent­lassen. – Kaplan in Emsdetten Herz Jesu 1946–1951 – Pfar­rer in Borghorst St. Nikomedes 1958–1970 – Dechant im Dekanat Borghorst 1959 – Pfarrer in Dülmen (Merfeld) St. Antonius 1970–1991 (als Pfarrer em. Pfarrverwalter 1987) – Pfar­rer em. in Ahaus 1991 – Im Seligsprechungsprozeß 1981 und Martyrerpro­zeß 1990 für Karl Leisner hat er als Zeuge ausgesagt.
[2] Positio super Virtutibus, Vol. I, S. 705f.

* * * * *

Neue Zeugnisse bestätigen die Äußerung „Martyrer der Dummheit“.

Nachtrag, überlassen von Franz Josef Schäfer:

HugoPfeil[1a] an Heinz Römer:
Monzel, den 12. Fbr. 1966
Lieber Heinz!
Vielen Dank für die prompte Zusendung d. No. 1 u. 2 des Rundbriefes [Stimmen von Dachau]. Ich lese mit Heißhunger Deine Berichte und bewahre sie gut auf. Meine Memoi­ren v. der Sommerfrische i. D. [im KZ Dachau] werden kein „Imprimatur“ bekommen, da darin manches steht, was „frommen“ Ohren“ nicht passt. Ich habe z. B. bei meinen Rund­gängen auf der Plantage, wo ich eifrig für den Endsieg gearbeitet habe, keinen deutschen eppus [episcopus – Bischof] getroffen, wohl aber ausländische, von denen einer, der poln. Weihbischof [Michał Kozal[1b]], ja gestorben ist. Er lag auf seinem Strohsack nicht weit von mir. Bei der Rückgliederung des Saarlandes war auch der eppus v. Speyer [Ludwig Sebastian[2]] in Saarbrücken, als Bürckel[3] redete. Später wurde eppus von dem „Schwarzen Korps“[4] durch den Cacau gezogen in Wort und Bild; ich habe die betr. Nr des S. K. noch in meinem Archiv….. wir hätten das M. [Maul] halten sollen, so konnten wir D [Dachauer] hören selbst von lb….. wir wären keine Marty­rer, sondern höchstens M. [Martyrer] der „Dummheit. Der Dompropst v. Berlin [Bernhard Lichtenberg[5]], der auf dem Transport nach D. starb, schrieb: „Ich will eher den Vorwurf der Unklugheit ertragen als den Vorwurf der ‚Feigheit’. Zwischen Klugheit u. Feigheit sind nur 2–3 cm, wie ich nachgemessen habe!“ Auch ein hl. Paulus hätte den Mund halten sollen, dann hätte er noch seinen Kopf behalten, aber er hat geredet vor König Agrippa [Apg. 25,13ff.]. Was würden jetzt unsere Gegner mit Recht schreiben können, wenn nicht 100 u. abermals 100 Priester damals geredet hätten! Bisher ist dem Klerus dieser Vorwurf nicht gemacht worden. —– Carls[6] u. Jupp [Josef Neunzig][7].— Beide hatten Zucker u. beide bekamen ein fürstliches Begräbnis…. Vor etwa einem Jahre [sagte] ich zu J. [Josef Neunzig] „Wenn Du wieder mal nach D. [Dachau] fährst, hole mich mit. Ich bezahle Dir das Benzin.“
Einverstanden, war seine Antwort: Jetzt danke ich dem lb. Gott, dass ich nicht in dem Un­glücksauto war, sonst wäre ich wohl auch auf der Landstraße gestorben.
Ich habe Dir 20 DM für die RB [Rundbriefe], geschickt, wenn jeder das tun würde, wäre die Schuld v. d. St.v.D. [Stimmen von Dachau] bezahlt.
Pfr. Joh. Kohlen hat unserem Beran[8] seinen Primizkelch geschenkt. Er war auch in D., aber seinen Namen kann ich nicht finden.
Mit Brudergruß in Eile
Dein Hugo
22644.
Ich habe noch meinen Schutzhaftbefehl und werde ihn einrahmen lassen![9]
[1a] Pfarrer Hugo Pfeil (* 21.9.1885 in Bassenheim/Preußen, † 21.5.1967 in Monzel) – Priesterweihe 1.8.1912 in Trier – Er kam wegen Predigt gegen den Krieg im Februar 1940 ins KZ Sachsenhausen, am 14.12.1940 ins KZ Dachau und wurde am 9.4.1945 entlassen.
[1b]  Weihbischof Dr. Michał (Michael) Kozal (* 25.9.1893 in Nowy Folwark/PL, † 26.1.1943 an Typhus im Revier des KZ Dachau) – im Ersten Welt­krieg als Offi­zier auf deut­scher Seite – Priesterweihe 23.2.1918 in Gnesen/Gniezno/PL – Bi­schofs­weihe zum Weihbischof für das Bistum Włocławek 13.8.1939 – Er feierte am 15.8.1939 sein erstes und letztes Pontifikalamt. Zu Be­ginn des Po­lenfeldzuges wurde er am 6.9.1939 verhaftet und kam am 25.4.1941 über das KZ Sach­senhausen ins KZ Da­chau. Man bot ihm an, in den „Ehren­bun­ker“ zu kommen, er aber wollte bei seinen Prie­stern blei­ben. – Selig­sprechung in War­schau 14.6.1987 – Gedenktag 14.6.
[2] Bischof Ludwig Sebastian (* 6.10.1862 in Frankenstein, † 20.5.1943 in Speyer) – Prie­ster­weihe 7.8.1887 in Bamberg – Bischofsweihe zum Bischof für das Bistum Speyer 23.9.1917 – Bischof von Speyer 1917–1943
[3] Gauleiter Joseph Bürckel (* 30.3.1895 in Lingenfeld/Pfalz, katholisch getauft, † 28.9.1944 in Neustadt an der Weinstr.) – Teilnahme am Ersten Weltkrieg – Volksschullehrer 1920 – Engagement in der NSDAP ab 1921 – Gauleiter in der Pfalz 1926 – Reichstagsab­ge­ordne­ter 1930 – Ernennung zum „Saarkommissar der NSDAP“ durch Adolf Hitler 1933 – Reichskommissar für die Rück­gliederung des Saarlandes 1935 – Reichskommissar für das Saarland 1936 – Reichs­kommissar für die Wie­dervereinigung Österreichs mit dem Deut­schen Reich 23.4.1938 – Reichs­statt­halter (interimistisch) in Wien 1.4.1940 Chef der Zivil­verwaltung in Lothringen 2.8.1940 – Reichsstatthalter in der Westmark 11.3.1941 – Als überzeugter Antisemit war er bereits ab 1938 maßgeblich an der Ausweisung von Juden und später an deren Deportation beteiligt.
[4]  Das Schwarze Korps
Kampf- und Werbeblatt der SS – erste Ausgabe mit den Untertiteln „Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP – Organ der Reichsführung SS“ 6.3.1935 – Die Zeitung erschien jeden Mittwoch im freien Verkauf, und jeder SS-Mann war verpflichtet, sie zu lesen und für ihre Verbreitung zu sorgen.
[5] Propst Bernhard Lichtenberg (* 3.12.1875 in Oh­lau/Oława/PL, † 5.11.1943 in Hof) – Prie­sterweihe 21.6.1899 – Dompfarrer 1932 u. Dompropst in Berlin St. Hedwig 1938 – Selig­sprechung in Berlin 23.6.1996
[6] Caritasdirektor Hans Carls (* 17.12.1886 in Metz/Moselle/F, † 3.2.1952 in München) – Priester­weihe 24.6.1915 in Köln – Caritasdirektor in Wup­pertal 1924 – Er kam wegen staatsge­fährli­cher Predigten am 13.3.1942 ins KZ Dachau und dort später wegen Beförde­rung von Schwarz­post in den Bunker. Am 29.4.1945 wurde er aus dem KZ befreit. 1947 gab er als erster die „Stimmen von Dachau“ heraus.
[7]  Josef Neunzig (* 1.3.1904 in Bedburg bei Köln, † an den Folgen eines Auto­unfalls am 1.5.1965 auf dem Weg nach Dachau zu einem Treffen der Da­chau­prie­ster 4.8.1965 in München) – Priesterweihe 12.3.1932 in Trier – Die Nationalsozialisten wiesen ihn am 30.11.1939 aus dem Bistum Trier aus. Am 3.1.1941 wurde er Pfarrvi­kar in Halver (Erz­bi­stum Paderborn), dort aber am 23.8.1941 von der Gestapo verhaftet. Er kam wegen Jugend­seel­sorge, wegen Verstoßes gegen den Kanzelparagraphen u. Beschen­kens polni­scher Zivilar­beiter mit Zigaretten am 14.10.1941 ins KZ Dachau, wurde am 9.4.1945 ent­las­sen und kehrte am 29.5.1945 nach Halver zurück. Nach seiner Entlassung fuhr er meist mit einem Holzko­cher, einem mit Holz statt mit Benzin angetrie­benen Lastwagen, dem sog. Circus-Neunzig, nach München und trans­portierte ehema­lige Häft­linge und de­ren An­gehö­rige durch die amerikani­sche, französische und briti­sche Besat­zungszone nach Wup­per­­tal und zu­rück. Er überführte auch Karl Leisners Leichnam von Planegg bis Wup­pertal. Er war einer der Heraus­geber der „Stim­men von Dachau“. Am 23.1.1948 wurde er Pfarrer von Her­dorf und am 27.4.1956 Pfarrer in Bad Bertrich.
[8] Dr. Josef Kardinal Beran (* 29.12.1888 in Pilsen/Plzeň/CZ, † 17.5.1969 in Rom, beigesetzt in der Krypta des Petersdomes) – Priesterweihe 10.6.1911 in Rom – Er kam wegen Verkehrs mit rechtsfeindlichen Kreisen am 4.9.1942 ins KZ Dachau und wurde am 29.4.1945 befreit. – Bischofs­weihe zum Erzbischof für das Erz­bi­stum Prag 8.12.1946 – Kar­dinal 1965 – Eröffnung des Selig­spre­chungsprozesses 2.4.1998
[9] veröffentlich in: Pfeil, Hugo: Leben, Leiden und Sterben der kath. Priester im KZ Dachau. Bearbeitet und kommentiert von Bernhard Haupert, Hans Günther Maas und Franz Josef Schäfer, Eppelborn 2012: 119f.

Trauerpredigt von Pater Martin Schiffer OSB[1] für Pfarrer Hugo Pfeil am 26. Mai 1967 in Monzel
Liebe Brüder und Schwestern!
[…]
Was uns, die wir jahrelang mit ihm zusammenlebten, an Hugo Pfeil besonders auffiel, war seine persönliche priesterliche Frömmigkeit.
Unvergeßlich ist uns das Bild des kleinen schwächlichen Mannes, wie er mitten im Ge­triebe und in der Hast und Unruhe und in dem Lärm der Blockstraße des Priesterblocks 26 im KZ Dachau, wo Hunderte von Priestern auf engstem Raum zusammengepfercht waren, mit dem Brevier in der Hand auf und ab ging, ganz tief in sich gesammelt, unberührt von all dem, was um ihn vorging, besorgt, ja sogar ängstlich besorgt, jedes Wort des Psalteri­ums genau und ehrfürchtig auszusprechen. Man spürte: In dieser Hölle von Dachau spricht ein Mann mit Gott, betet in diesem Priester Christus zum Vater.
Besonders eindrucksvoll war es sodann für uns, wenn wir unseren Mitbruder auf dem har­ten Boden der Lagerkapelle knien sahen, den unterernährten und zum Skelett abgemager­ten Körper an einem Schemel anlehnend. Pfr. Pfeil war einer der eifrigsten Besucher des Tabernakels, oft kniete er ganz allein in der Kapelle, und wer ihn sah, spürte unwillkürlich etwas von der tiefen Beschauung, in der diese Priesterseele ruhte, besonders dann, wenn er dem hl. Messopfer beiwohnte. Ihn kümmerte es nicht, ob mehrstimmig gesungen wurde oder Gregorianischer Choral, ob wir Westdeutschen unsere kraftvollen Lieder sangen oder ob unsere österreichischen Freunde ihrem Gemüt und ihrem Gefühl in ihren Liedern Aus­druck gaben. – Pfr. Pfeil kniete ganz in der Nähe des Altars an seinem bestimmten Platz, ganz in sich hineingesunken und versunken, und man spürte, jede Faser seines durch Hun­ger und brutale äußere Gewalt bedrohten Lebens war einbezogen in das Opfer Christi, wie Paulus sagt: „Ich ergänze durch meine Leiden, was am Opfer Christi fehlt, zum Aufbau des mystischen Leibes Christi, der da ist die Kirche.“
[…]
Um das priesterliche Bild unseres Verstorbenen abzurunden, muß ich noch kurz eine an­dere Seite seines priesterlichen Lebens aufzeigen. Ich sagte eben schon: Pfr. Pfeil war sei­ner Natur nach ein in sich gekehrter Mensch, ein beschaulicher Mensch, dem es oft schwer wurde, aus sich herauszutreten, der vieles in sich hineinfraß, das plötzlich dann aber auch wie eine Explosion ausbrechen konnte, worunter er sehr litt.
Noch bei unserem letzten Zusammensein bei der Wallfahrt der Monzeler zum Grab des heiligen Matthias [in Trier] am vergangenen 1. September erinnerte mich der Verstorbene an eine unserer schwersten Stunden in Dachau – vielleicht die schwerste unseres KZ-Lebens: 1943 kam als Zugang zu uns auf den Priesterblock der höhere Obere einer deutschen Ordensge­nossenschaft, der nach seiner Verhaftung nur ein paar Tage im Gefängnis war und dann so­fort nach Dachau transportiert wurde. Er berichtete uns das Neueste von draußen und er­wähnte in diesem Zusammenhang auch das Wort eines hohen römischen Prälaten [Nuntius Cesare Orsenigo, d. Hrsg.], der die deutschen Verhältnisse gut zu kennen glaubte und der kurz zuvor irgendwo gesagt hatte: „Alle Priester, die im KZ sitzen, sind durch ihre eigene Unklugheit und Dummheit hineingekommen.“ Als wir dieses Wort hörten, schrieen wir alle förmlich auf, denn die größten Peinigungen von Seiten der SS im Lager waren nichts ge­genüber diesem Fallengelassensein von eigenen Mitbrüdern. – Ich darf noch bemerken, daß es erst 1950 werden mußte, als Pius XII. bei einer Audienz für etwa 100 ehemalige Dachauer Geistliche uns das Wort zurief: „Ihr seid nicht Opfer eurer Dummheit geworden, sondern ihr seid eurem Gewissen gefolgt, und dafür danken Wir euch.“
Pfr. Pfeil litt infolge seiner nach innen gekehrten Art, die sich dazu mit einer gewissen Kontaktarmut verband, unter dieser Verkennung mehr als die meisten von uns. Er war ei­ner der ersten Trierer Priester, die von der Gestapo in Dauerhaft gesteckt wurden: 1939 zu­erst kurze Zeit ins Gefängnis zu St. Wendel, dann ein Jahr im schweren Lager Sachsenhau­sen, wo die Häftlinge in strengster Bewachung durch die SS persönlich standen und wo alles im Laufschritt geschehen mußte; und dann von Ende 1940 bis April 1945 in der Hölle von Dachau. Pfr. Pfeil sprach nie von den Fußtritten und Ohrfeigen, die er – wie wir alle – in reichlichem Maße bekommen hatte. (Wir Dachauer Geistliche sprechen nicht gerne über körperliche Mißhandlungen; wie ja auch niemand hier in Monzel wußte, daß der † Pfr. Bettendorff[2] noch bis zu seinem Tode an blutenden Wunden von Schlägen im KZ-Lager litt – mir allein hatte er es einmal im vertrautesten Gespräche gesagt, sonst wußten es nicht einmal seine besten Freunde.
Weil Pfr. Pfeil besonders hart unter dieser Verkennung seitens kirchlicher Stellen litt – durch sein In-sich-Gekehrtsein mehr als wir anderen –, tat er uns oft sehr leid. Sein schwächlicher Körper mag noch das Seinige dazugegeben haben. Wir, seine Freunde, ver­standen ihn und wir waren froh, wenn er sich bei uns im Lager und auch später Luft machte – wir wußten, es war seelische Not, unter der er am meisten litt. Ich glaube daher sagen zu dürfen: Dieses Leid – nach außen hie und da vielleicht hart anklingend und nicht immer von jedem verstanden – war sein persönliches Martyrium, das er bewußt bis in seine letzten Tage hineingetragen hat, da er es auch als persönliche Aufgabe seines Ringens um die letzte Vollendung der Gottesliebe ansah. Vielleicht hat er durch dieses Sich-Tragen und Ringen vor Gott mehr gewirkt für die Menschen als durch sein Beten und sein eucharistisches Opfern. Auch in diesem Sinne können wir mit Recht auf unseren Toten das Wort anwenden des heiligen Chrysostomus, das der Verstorbene selbst über seine Todesanzeige stellte: „Der Märtyrer stirbt nur einmal für Christus, der Hirte tausendmal für seine Herde.“
[…]
Amen.[3]
[1] Pater Martin (Arnold) Schiffer OSB (* 30.9.1908 in Büttgenbach, † 15.7.2005) – Eintritt bei den Benediktinern in St. Matthias in Trier – Profeß 29.6.1928 – Priesterweihe 1.4.1933 – Kaplansstelle in Güls nach der Vertreibung der Mönche aus dem Kloster – Er kam wegen Einmischung in Eheange­legen­heiten am 10.7.1942 ins KZ Da­chau, hat an Karl Leisners Priesterweihe teilge­nommen und wurde am 10.4.1945 entlassen. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausgesagt.
[2] Ludwig Bettendorf (* 28.9.1887 in Trier, † 29.3.1951) – Priesterweihe 1.8.1912 in Trier – Er kam wegen falscher Anklage betreffs Straf­androhung Kindern gegenüber im August 1940 ins KZ Sachsenhausen, am 14.12.1940 ins KZ Dachau und wurde am 4.4.1945 entlas­sen. Im KZ Dachau war er enger Mitarbeiter von P. Joseph Kentenich SAC.
[3] Die Predigt wurde veröffentlicht in: Stimmen von Dachau, Nr. 9, Winter 1967/68 sowie in Eppelborner Heimathefte, Nr. 6, 1993: 60–65