Karl Leisner und die Antigone des Sophokles

AntigoneSophokles: Antigone. Übersetzung Wilhelm Kuchen­müller, Stuttgart: Reclams Universal-Bibliothek Nr. 659 1955

Sophokles (* 496 in Kolonos/GR, † 406/405 v. Chr. G. in Athen/GR) – Dich­ter (Drama­tiker)

Die F.A.Z. vom 4. April 2016 berichtete von einer Aufführung im Pfauen, der größten Bühne des Schauspielhauses Zürich, unter der Überschrift „Antigone und das Bein der Schaufensterpuppe. In Zürich dekonstruiert René Pollesch den alten Brecht mit Hilfe des noch älteren Sophokles und neuer Diskurse. So wird aus der antiken Tragödie eine leichte Theaterkomödie: ‚Bühne frei für Mick Levcik!’“
Zugrunde liegt dieser Inszenierung die nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitete Fassung von Bertolt Brecht, die 1948 zum ersten Mal im Stadttheater Chur aufgeführt wurde.
Karl Leisner kannte nur die antike Tragödie des Sophokles. Er hätte diese vermutlich jeglicher modernen Version beziehungsweise Inszenierung vorgezogen.

Link zur Online-Version des Artikels

Siehe auch Link zur ZEIT ONLINE vom 3. März 1948.

Es geht um den Konflikt zwischen König Kreon und dessen Nichte Antigone. In Kreons Augen ist ihr Bruder Polyneikes ein Vater­landsverräter. Daher verbietet Kreon dessen Bestattung. Antigone ist jedoch der Ansicht, ihr Bruder habe auf Grund seines Menschseins ein Anrecht darauf.

Karl Leisners Tagebücher spiegeln wider, was er gelesen und gelernt hat. So finden sich auch Zitate aus der klassischen griechischen Literatur. Die Antigone von Sophokles ist dafür ein Beispiel.

Kleve, Samstag, 27. März 1937, Karsamstag
Eine große Wirklichkeit ist mir schmerzlich und doch so klar und froh­ma­chend aufgestiegen heute:
Nur eins ist notwendig! [vgl. Lk 10,42] Nur die­s eine: der Glauben an Gott und den er gesandt hat: Jesus Christus. Und das heißt: Lebendiger Christus­glaube, heiliges Leben, Leben als Heiliger!
Das ist es, dies eine, was unserer Zeit fehlt: der Heilige, der göttliche, er­füll­te (Gott)mensch, der alter [zweite] Christus! Alles meinen wir heutigen Men­schen zu besitzen. Was wissen und können wir nicht alles! Sophokles’ Hym­nus vom gewaltigsten Wesen auf dieser Erde scheint ganz Wirklich­keit[1]: Aber er war Heide! – Ja, heidnisch vollendet steht da die Welt heute, die Menschheit! Ein Hasten, ein Jagen, ein egoistischer Taumel, ein Tanz um Mammon und Ve­nusköder!
Diese verdammte Feigheit!

Georgsdorf, Sonntag, 13. Juni 1937
Den Haß fortzulieben sind wir da![2] – Die ganze magnitudo et excel­lentia fidei super omnem „visionem mundi“ [Größe und Herrlichkeit des Glaubens gegenüber jeder Welt­anschau­ung] geht mir auf. In Ruhe, Stolz und Freude trete ich aus dem Gotteshaus, Christi Kraft wie­der frisch im Herzen!

[1] Chor aus Antigone:
Ungeheuer ist viel und nichts / Ungeheurer als der Mensch.
Er überschreitet auch das graue Meer / Im Notossturm
Unter tosenden Wogen hindurch. / Erde, der Götter höchste,
Die Unerschöpfliche, Unermüdliche, / Bedrängt sein Pflug. Auf und ab
Ackern die Rosse ihm / Jahr um Jahr. / Leichtgesinnter Vögel Volk
Fängt er im Garn, / Wilder Tiere Geschlechter / Und Kinder des Meers
In verschlungenem Netz­ge­flecht, / Der kluge Mensch. / Mit List bezwingt er,
Was haust auf Höhen / Und schweift im Freien. / Dem Pferd mit der mächtigen Mähne,
Dem unbändigen Bergstier / Zähmt er den Nacken / Unter das Joch. / Und die Sprache
Und luftge­wirkte Gedanken / Lehrte er sich / Und den Trieb zum Staat / Und Obdach
Gegen ungastlichen Reif vom Himmel / Und Regengeschosse, / Allberaten.
Ratlos tritt er / Vor nichts, was kommt, / Nur dem Tod entrinnt er nicht.
Aber aus heillosen Leiden / Ersann er sich Rettung. / Mit der Erfindung Kunst
Reich über Hoffen begabt, / Treibt’s zum Bösen ihn bald / Und bald zum Guten.
Ehrend des Landes Gesetz / Und der Götter beschwornes Recht / Ist er groß im Volk.
Doch nichts im Volk, / Wer sich dem Unrecht gab / Vermesse­nen Sinns.
Nie sei Gast meines Herdes, / Nie meines Herzens Freund, / Wer solches beginnt.
Sophokles 1955: 20f. V. 332375
[2] In dem Lied „Herz Jesu, Gottes Opferbrand“ lautet eine Zeile: „Laß uns den Haß, das bittre Leid fortlieben aus der dunklen Zeit.“
In der Tragödie von Sophokles heißt es: „Nicht mitzuhas­sen, mitzulie­ben bin ich da“ Sophokles, Antigone, Stuttgart 1955: 27 V. 523

herwig_cover

 

Herwig, Franz
St. Sebastian vom Wedding. Legende, München 1921

Franz Herwig (* 20.3.1880 in Magdeburg, † 15.8.1931 in Weimar) – Schrift­stel­ler u. Lite­raturkritiker für die Zeitschrift „Hochland“ – Freund des Priesters u. Sozial­ethikers Carl Sonnenschein – In seinen Romanen verknüpfte er die soziale Problematik des Proleta­riats mit der religiösen.

 

 

Dahlen, Mittwoch, 14. April 1937
„Haß, nichts wie Haß! Wie groß muß unsere Liebe sein, ehe sie den Haß überwindet! Wie viele Liebende müssen wir sein, damit neben jedem Hassenden ein Liebender steht, der ihn umarmt?“ S. 65
St. Sebastian vom Wedding
F. [Franz] Herwig

Originaltext
herwigtext-1

 

Josef Perau[1] aus Hülm am 17. August 1998 an Hans-Karl Seeger:

perau1-1
perau2-1

Hülm, 17.8.98

Lieber Hans-Karl,
fast hätte ich vergessen, Dir die gewünschte Kopie zu schicken. Was Karl L. im R.A.D. widerfuhr, weiß ich ebenso wie Du nur durch sein Tagebuch. Wie weit meine Interpretation dieser Tatsachen[2] zutreffend ist, mußt Du selber abwägen aus dem Gesamt von Karl Charakter u. dem Gesamt seines Lebens. Ich kann als „Mehr“ nur die persönliche Bekanntschaft anführen und die Faszination, die damals Franz Herwigs „St. Sebastian vom Wedding“ auf uns alle ausübte. Wenn Du das kleine Buch nicht kennst, muß Du es lesen. In jeder größeren Bibliothek, etwa in Gerleve, vorhanden.
Arbeite weiter so fleißig
Dein Josef P.

[1] Josef Perau (* 8.11.1910 in Wissel, † 29.7.2004) – Abitur am Collegium Augustinianum Gaesdonck – vier Semester Theologie in Salzburg/A – Eintritt ins Collegium Borro­maeum in Münster mit Karl Leisner 1.5.1934 – dort verzeichnet ab 1.5.1932 – Priester­weihe 18.7.1937 in Münster – Primiz 25.7.1937 – Schloßgeistlicher in Moritzburg, Pfarrei Dresden-Rade­beul 1937 – Präses der Gaes­donck 1954–1959 – Pfarrer in Goch-Hülm 1959–2004 – Er gab einen entscheidenden An­stoß zur Selig­spre­chung Karl Leisners und hat im Seligsprechungsprozeß 1981 als Zeuge ausgesagt.
[2] Siehe Perau, Josef: Biographie Karl Leis­ners zur Seligsprechung 1996, (Typoskript).